Den drängenden Prozessänderungen bei Planung und Bau von Häusern zum Trotz ist der Abriss von Bausubstanz in deutschen Städten an der Tagesordnung. In Dortmund scheint er besonders drastische Dimensionen anzunehmen. Auf diesen Umstand reagieren Jonathan und Richard Schmalöer mit ihrer Ausstellung Der doppelte Verlust im Baukunstarchiv NRW mit Fotos, Montagen und Texten, die den Bestand, seinen materiellen Wert an gespeicherter Energie und seinen ideellen Wert für Geschichte, Stadtbild und Identität zum Inhalt haben. Dabei spannt sich der Bogen der bedrohten Gebäude von der gründerzeitlichen Hofstelle über repräsentative Verwaltungsbauten der Industrialisierung und des Wirtschaftswunders bis zu Schulbauten der letzten 150 Jahre. Diese hat Jonathan Schmalöer fotografisch dokumentiert und digital bearbeitet, sodass die Gebäude auf den großformatigen Abbildungen an der Längswand des Gartensaals im Baukunstarchiv NRW auf ihre robuste Struktur und Materialität zurückgeführt wirken. Das lässt die Tatsache von jahrelangem Leerstand und Verfall noch unbegreiflicher werden, als sie in Fachkreisen ohnehin schon wahrgenommen wird.

Reges Interesse: Podiumsdiskussion anlässlich der Ausstellung „Der doppelte Verlust“ im Baukunstarchiv NRW.- Foto: Julia Neuhaus/ Baukunstarchiv NRW

In Richard Schmalöers fünf großformatig gedruckten Texten wird diese Unbegreiflichkeit in Form einer Kette von Begriffen, die sich wie die Kapitel einer Geschichte lesen, beschrieben. Dabei entwickeln sich die Texte von der Erkenntnis des fehlgeleiteten Handelns über dessen Ursachen hin zur Idee einer neuen, dem Zeitumstand angemessenen Ästhetik. Unmut – Armut – Gleichmut – Hochmut – Demut lauten denn auch die Untertitel der fünf Tafeln.

Während der Eröffnung der Ausstellung am 23.3.23 mit Redebeiträgen von Wolfgang Sonne, Tim Rieniets und den beiden ausstellenden Planern schien beim Publikum großes Verständnis für die eingeforderten Veränderungen vorhanden. Noch am selben Abend zweifelten bis dato abrissbereite Investoren an ihren bisherigen Planungen und fragten sich in den zahlreichen Gesprächen in den Räumen des ehemaligen Museums am Ostwall, das sich mit seiner Umbaugeschichte wieder einmal als idealer Ort für Debatten zur Bauwende erwies, ob man mit den beabsichtigen Neubauten den richtigen Weg beschritten habe (Nachbericht zur Vernissage hier).

Diesen Auftakt galt es, im Rahmen einer Gesprächsrunde am 18.4.23 zu vertiefen, in die Jonathan Schmalöer einführte und die von Richard Schmalöer moderiert wurde. Dazu hatten die beiden neben dem Hauptgeschäftsführer der Architektenkammer NRW, Markus Lehrmann, Teilnehmende aus verschiedenen Tätigkeitsfeldern eingeladen.

Der Schriftsteller Alexander Estis verbringt als Dortmunder Stadtschreiber ein halbes Jahr in der für ihn neuen Umgebung. Er hat sich in seinen Büchern mit den Belangen der Bewohner*innen verschiedener Städte beschäftigt, die selten Gehör finden, wenn es um Planungsprozesse geht. Wie ist der Blick auf öffentlichen Raum und auf öffentliche Infrastrukturen von Nutzer*innen, die aus den intellektuellen oder wirtschaftlichen Diskursen zur Stadtentwicklung ausgeklammert sind? Woran machen sie ihr Gefühl von Ortsverbundenheit fest? Seine Interviews und Gespräche, so erläuterte der Schweizer Autor, lassen eine deutliche Tendenz zur Notwendigkeit von Pflege, Wartung und Erhalt bestehender baulicher und landschaftlicher Elemente erkennen. Mit viel größerem Beharrungsvermögen ausgestattet als privilegiertere Gruppierungen, betrachten die von Alexander Estis Befragten umfassende Veränderungen durch Abriss und Neubau als Eingriff in das, was für sie Heimat ist.

Diskutierten beim Podiumsgespräch zum Thema „Bauwende“ (v.l.): Richard Schmalöer, Alexander Estis, Freya Hattenberger, Peter Simon, Markus Lehrmann. – Foto: Julia Neuhaus/ Baukunstarchiv NRW

Das Kölner Künstlerduo Freya Hattenberger und Peter Simon hat sich in seinen audio-visuellen Arbeiten unter anderem mit brutalistischer Architektur in verschiedenen Ländern bzw. Kontinenten befasst und diese in seinem Projekt „Meander Tapes“ auf ihre spezifischen Qualitäten hin untersucht. Aus Sicht des Künstlerduos stellt sich der Umgang mit hierzulande kontrovers bis kritisch eingeschätzter Substanz aus den 1970er Jahren unter anderem in Indien ganz anders dar als bei uns. Der von Hattenberger/Simon künstlerisch untersuchte Visvesvaraya Tower in Bangalore zum Beispiel wird dort mit großer Empathie wahrgenommen. Seine Nutzung wird durch intelligente Konzepte fortgeschrieben, seine technische Minimalausstattung ist durch ihren Low-Tec-Ansatz heute maßgeblicher denn je. Wo in unseren Breiten regelmäßig die Abrissbirne kreist, wenn die Funktion nicht mehr passt oder eine Wärmebrücke die bauphysikalischen Nachweise erschwert, wird in vermeintlich weniger entwickelten Gegenden oftmals kreativer und nachdenklicher mit dem Bestand gearbeitet, so das Fazit aus künstlerischer Sicht.

Für Markus Lehrmann, den Hauptgeschäftsführer der Architektenkammer Nordrhein-Westfalen und Geschäftsführer des Baukunstarchivs NRW, – als Bindeglied zwischen Planer*innen und Politik – stellt der Bestandserhalt, also die planerische Berücksichtigung bereits verbauten Materials, die Planungsaufgabe der Zukunft dar. In seinen Statements beschrieb er präzise und nachdrücklich das maximale Ausmaß aktueller Baupraxis als erreicht, ein Umdenken als unabdingbar. Für ihn und für die Arbeit der Kammer sei die Endlichkeit der planetarischen Grenzen bei der Nutzung der Ressourcen oberstes Gebot weiteren Handelns. Sich aus solcher Haltung ergebende Forderungen würden von der Politik im Wesentlichen mitgetragen, wofür die europäischen Gespräche, die aktuell unter dem Begriff „fit for 55“ geführt würden, exemplarisch stünden.

Als fünfte Gesprächspartnerin hatten Jonathan und Richard Schmalöer die Architektin, Künstlerin und Professorin Anne-Julchen Bernhardt eingeladen, die jedoch gesundheitsbedingt absagen musste. Die für sie vorbereiteten Fragen wurden deshalb mit dem knapp 100 Personen starken Publikum diskutiert, aus dessen Reihen darauf hingewiesen wurde, dass die Wahrnehmung von Bausubstanz immer auch mit dem Erleben und Spüren von Identität und Geschichte verbunden sei – selbst wenn den Gebäuden keine historische Bedeutung zugeschrieben werden könne.

Podiumsdiskussion anlässlich der Ausstellung „Der doppelte Verlust“ am 18.4.23 im Baukunstarchiv NRW.- Foto: Julia Neuhaus/ Baukunstarchiv NRW

Richard Schmalöer beendete das intensive Gespräch nach gut zwei Stunden mit einem Zitat des Autors Kurt Drawert aus seinem Theaterstück Alles ist einfach: „Stell Dir ein sinkendes Schiff vor, auf dem der Kapitän die Mannschaft bis ins letzte Detail darüber unterrichtet, wodurch, in welcher Zeit und wie sie ertrinken wird. Kein Vorgang, der nicht seine Berechnungen hätte…, worauf nun der Kapitän äußerst stolz ist und es als Errungenschaft feiert. Allein das Loch im Rumpf, durch das Wasser ins Schiffsinnere dringt, ist nicht zu schließen. Das ist die Lage.“ (Zitat nach Suhrkamp Verlag, Frankfurt 1995). Dem war insofern nichts mehr hinzuzufügen.

Die Ausstellung ist noch bis zum 21.5.23 im Baukunstarchiv NRW zu sehen, weitere Informationen hier.

Text: Richard Schmalöer, 8.5.23

Bilder: 1.: Blick in die Ausstellung; 2.: Richard (l.) und Jonathan Schmalöer präsentieren „Der doppelte Verlust“ im Gartensaal des Baukunstarchivs NRW; 3.: Blick in die Ausstellung.- © Melina Beierle/ Architektenkammer NRW